Hrsg. von der Deutschen Zentralbücherei für
Blinde zu Leipzig (DZB)
Nr. 2/2001 März/April 11. Jahrgang
Inhalt
Vorbemerkung
Unsere Postecke
Einblicke
Die DZB im Jahr 2000
Produktionsvorhaben im neuen Jahr
Wie war das damals?
Die
Erholungsfürsorge des Reichsdeutschen Blindenverbandes und des Deutschen Blindenverbandes
Die Kramkiste
Leo Tolstoi: »Hadschi Murat«
Guy de Maupassant: »Bel Ami«
Bücher des Jahrhunderts
Marcel Proust: Auf
der Suche nach der verlorenen Zeit
LOUIS
Digitale
Hörbücher abspielen - zwei Wiedergabegeräte im Vergleich
Info-Service
Personalien
Rundschreiben des DBSV-Vorstandes
Rehabilitation von Altersblinden
Frühling für Literaturfreunde in
Boltenhagen
Lehrgänge des DBBW
Impressum
Vorbemerkung
Es tut sich was. Bis vor Kurzem dümpelte unsere Postecke so vor sich hin, fast hätte man
schon "Ghostwriter" engagieren müssen ... Davon kann in dieser Ausgabe
allerdings keine Rede mehr sein. Die an uns herangetragene Meinungsvielfalt belebt doch
ungeheuer.
In der Hoffnung, dass die Diskussionsfreude anhält und dass Sie schön neugierig geworden
sind, möchte ich Sie auch gar nicht länger aufhalten und heiße Sie herzlich willkommen
zur neuesten Ausgabe der DZBN!
Ihr Karsten Sachse.
Unsere Postecke
Die Veröffentlichungen sind nicht zwangsläufig identisch mit der Redaktionsmeinung. Aus
redaktionellen Gründen müssen wir uns Kürzungen vorbehalten. Wenn Sie keine
Veröffentlichung wünschen, vermerken Sie dies bitte.
"(...) Nach den Worten von Herrn Zimmermann aus Zwickau war es eine
Kultveranstaltung, die die DZB zum 175-jährigen Jubiläum der Brailleschrift
durchgeführt hat. Nein, lieber Herr Zimmermann, so klein reden lasse ich diese
Veranstaltung nicht. Wenn, wie wir es wieder gehört haben, die Gruppe der
Punktschriftleser relativ klein ist, so ist doch die Entdeckung dieser Schrift von so
großer Bedeutung, dass man sich etwas Besonderes einfallen ließ. Inzwischen ist die
Dokumentation auf Kassette erschienen und man kann noch einmal nachhören, wie viele kluge
Gedanken an diesem Abend geäußert wurden.
Mich bewegt aber noch ein anderer Aspekt dieser Veranstaltung, der die Leipziger
Journalisten betrifft. Sie haben in Vorbereitung auf diese Veranstaltung in einigen
Veröffentlichungen darauf hingewiesen und auch die Pressemitteilung des DBSV mit
verarbeitet. Nach der Veranstaltung aber keine Veröffentlichung (...) Bedauerlich für
unsere Öffentlichkeitsarbeit, dass uns die Journalisten am Schluss in Stich gelassen
haben. (...)"
[Gerhard Mathow, Leipzig]
"(...) Ich will jetzt einmal eine Lanze für die neue Fernsehzeitung brechen! Ich
persönlich finde diese besser als die vorige, sie ist meiner Meinung nach auch
ausführlicher.
Sie ist:
1. genauso aufgebaut wie die von Sehenden, das heißt, das Vormittagsprogramm ist
fortlaufend und das Abendprogramm sehr ordentlich und übersichtlich untereinander
angeordnet.
2. Filme mit Audiodeskription stehen gleich auf der zweiten Seite fein untereinander, die
in dieser Woche laufen, und zusätzlich im Programm noch mal.
3. Am Ende der Zeitung ist immer ein Rezept, worüber ich sehr erstaunt war, was ich aber
sehr gut finde.
Ich verstehe die Kritik der anderen nicht! Haben die die Zeitung überhaupt schon mal
gelesen? (...)"
[Kerstin Rennau aus Schleswig]
"(...) vielen Dank für die Erweiterung der Radiozeitschrift zur Braille-Radio.
Meines Erachtens war dieser Schritt wirklich n ötig und führt hoffentlich dazu,
dass Ihre Zeitschrift noch mehr Kunden anspricht. Vor einiger Zeit hatte ich eine
Erweiterung in ähnlicher Weise einmal vorgeschlagen, weshalb mich die neue
Braille-Radio besonders freut. Vielen Dank dafür!
Jedoch kein Lob ohne Kritik. Diese
bezieht sich allerdings auf die Homepage der DZB. Ich halte das Internet f ür das
Medium derZukunft. Im besonderen verbunden mit der immer besser entwickelten Software
f ür blinde und sehbehinderte Computernutzer. Leider musste ich beim Aufrufen
Ihrer Seite allerdings feststellen, dass Sie Ihre Seiten mit Frames gestalten.
Diese halte ich nicht f ür nötig und nützlich, da sie für unseren
Nutzerkreis - und den sprechen Sie ja insbesondere an - eine Barriere darstellen.
(...)"
[J. Fleger ]
"(...) herzliche Gratulation zu der gut gestalteten Homepage. Die angebotenen
Informationen sind sehr interessant. Besonders gut finde ich die Stimme von Hans
Lanzke, die den Surfer begleitet. Ich arbeite mit Windows 98 und als Skreenreader
JAWS. (...)"
[Rudolf Herbrig aus Meißen]
"(...) Die musikalischen Glückwunschkarten, aber auch die anderen, sind eine echte
und wunderbare Bereicherung unserer DZB. An schöne Dinge gewöhnt man sich sehr schnell.
So freue ich mich jedes Mal, mit einem musikalischen Gruß zu den entsprechenden
Jubiläen, Verwandte und Freunde zu überraschen.
Nun habe ich einen Vorschlag zu unterbreiten: Wäre es nicht auch möglich, ganz neutrale
Karten, z.B. angemessen der vier Jahreszeiten oder aber auch für jeden Monat mit dem
passenden Motiv herauszubringen. Natürlich mit einer CD, wofür es ja reichlich Lieder
und kleine Musikstücke zur Auswahl geben dürfte. (...)"
[Gisela Remus, Berlin]
"(...) Bezüglich der letzten DZB-Nachrichten habe ich mich sehr verwundert (um mich
freundlich auszudrücken) über den Artikel zum Thema Erholungsfürsorge der
Blindenverbände. In Wallung gebracht hat mich die selbstverständliche Voraussetzung,
dass der Blinde 'eine Begleitung an seiner Seite habe'. Spaßeshalber habe ich im Haus in
Boltenhagen angerufen, um mich zu erkundigen, wie man dort auf Blinde ohne Begleitung
eingestellt ist. Das Ergebnis hieß: 'Bedienung bei den Mahlzeiten gewährleistet.'
Das Problem existiert nicht nur im Haus Seeschlösschen. In Timmendorfer Strand war es,
als ich vor längerer Zeit dort anfragte, das Gleiche, und Osterode versprach zwar
großzügig dies und das, konnte das Versprochene aber nicht halten. (...)
Ein sog. auf Blinde eingestelltes Haus, das keinen Begleitservice für Spaziergänge und
Schwimmen anbieten kann, ist für mich kein in Frage kommender Ferienort! Schließlich
lebe ich das ganze Jahr über selbständig und suche mir die Hilfen, die ich benötige,
punktuell zusammen. Im Urlaub möchte ich das genauso handhaben können! Und wenn ich auf
Schwimmen in der Ostsee kommen darf: Wer sagt denn, bitte, dass die Begleitperson, die
zufällig zur gleichen Zeit Ferien machen kann wie ich, zufällig Lust dazu hat, mit dem
Ort einverstanden ist, - wer sagt denn, dass die auch schwimmen kann und Lust zum
Schwimmen hat, und wie ich, lange und ausdauernd schwimmen kann und schwimmen will, ohne
dass ihr das Wasser zu kalt wird oder die Puste ausgeht?! Hier geht der Artikelschreiber
von Voraussetzungen aus, von denen mir rätselhaft ist, aus welchem Paradies er sie
herholt!
Ich fände den kostbaren Platz in Ihrer Zeitschrift besser benützt, wenn Sie informieren
würden über realisierbare Ferienangebote für blinde und sehbehinderte Menschen mit und
ohne Begleitung! Eine Erörterung, was der Blinde (natürlich ausschließlich m i t
Begleitung!!) vom Meer hat, ist für mich, entschuldigen Sie bitte, Platzverschwendung!
(...)"
[Erika Reischle-Schedler aus Rosdorf]
"(...) 'Prof. Willi Finck ist einer der wichtigen Zeitzeugen des Ausbaus der
Erholungseinrichtungen des BSV der DDR in Boltenhagen. Als Bezirksvorsitzender in Rostock
hat er persönlichen Anteil an der Realisierung von Baumaßnahmen und staatlicher
Förderung.'
Das klingt nach, wenn allein in diesem Textauszug in den DZB-Nachrichten sich 7 mal das
Wort 'Objekt' häuft.
Nun hat er sich, wie er es versteht, als Wissenschaftler der Gesamtproblematik zugewendet.
'85 Jahre Blindenkur- und Erholungsfürsorge
an deutschen Küsten ...' heißt seine Veröffentlichung, die die DZB in Auszügen
nachdruckt. In Sachen Geschichte der Blindenselbsthilfe in Deutschland liegt die Messlatte
erfreulich hoch, seit Gustav Doubrava, Hartmut Mehls, Werner Uhlig u.a.m. in
entsprechenden Publikationen gezeigt haben, wie sich fleißig gesichtete Quellen und
verlässlich recherchierte Fakten anspruchsvoll und doch gut lesbar zu einem stimmigen
Gesamtbild verdichten lassen.
Diesem Maßstab wird Willi Finck leider nicht gerecht. Ungenau ist nicht nur die
Entstehung des Blindenkurbetriebes in Boltenhagen recherchiert, verschwommen ist die Sicht
auch im Weiteren, z.B., wenn es heißt:
'Im Unterschied zu den vorgenannten Einrichtungen konnten der Einbau eines
rollstuhlgerechten Fahrstuhls sowie der Ausbau von Zimmern mit speziellen Sanitäranlagen
für Rollstuhlfahrer im Haus Seeschlößchen des Blindenkurheimes Boltenhagen erst im
Zusammenhang mit den Baumaßnahmen von 1997/98 berücksichtigt werden.'
Im Unterschied zu den vorgenannten Einrichtungen erst 1997 - 98? Die Aufzählung endet mit
einer katholischen Einrichtung in Heringsdorf, die die entsprechenden Umbauten nach
Aussage von Prof. Finck im Jahr 2000 bis 2001 realisiert. Hier geht so ziemlich alles
durcheinander. In der Aufzählung steht auch das 'Alfons-Gottwald-Haus' in Timmendorfer
Strand, wofür fälschlicherweise der Deutsche Blindenverband als Träger genannt wird.
Veraltet war zum Zeitpunkt des Umbaus unserer 'Ostseeperle' nicht nur die Bezeichnung
'Kurheim'; reichlich überholt ist auch die Feststellung, dass 'der Blinde im Regelfall
eine Begleitung an seiner Seite hat ...'.
Auch bezüglich des Vorspanns zur Serie in den DZBN möchte ich gern etwas klar stellen.
Mit folgendem Satz wird nämlich unzutreffend der Eindruck erweckt, der BSVMV sei der
Initiator oder gar Herausgeber der Broschüre: 'Die zum Sommerfest des Blinden- und
Sehbehindertenvereins Mecklenburg-Vorpommern e.V. am 22. Juli 2000 herausgegebene
Publikation wird in diesem Jahr in der DZB als Hörbuch produziert.' (...)"
[Dr. Jürgen Trinkus, Kleinflintbek]
"(...) Frau Dr. Wenda Focke, Postfach 1648, 91006 Erlangen, Telefon (0 91 31) 50 12
62, uns schon bekannt aus ihrer Arbeit 'Träume Blindgeborener', sucht jetzt, durch mich
selbst dazu angeregt, Menschen, die blind geboren oder bis zur Vollendung des zweiten
Lebensjahrs erblindet sind, schon mal eine Nahtoderfahrung hatten und bereit sind, Frau
Dr. Focke auf Kassette, telefonisch, in Blinden- oder in Schwarzschrift darüber zu
berichten. Vertrauliche Behandlung kann ich zusichern. Blindenschrift würde ich selbst
für Frau Dr. Focke umsetzen. Wer Fragen hat, darf selbstverständlich auch mich anrufen
oder seine Telefonnummer auf meinem Anrufbeantworter hinterlassen. (...)"
[Dr. Hans-Eugen Schulze aus Karlsruhe,
Tel. (07 21) 86 26 26]
"(...) Leider musste ich in letzter Zeit immer wieder feststellen, dass
Hörbuchkassetten nur halb gehört wieder in der Box lagen.
Daraus ergibt sich für mich die Frage, wie manche Nutzer die Bücher lesen, denn den
Inhalt eines Buches kann ich eigentlich nur dann verfolgen, wenn ich es von Anfang bis
Ende lese, und nicht nur in Auszügen.
Ich bitte doch alle Entleiher der Hörbücherei, die Kassetten wieder in die
Ausgangsposition zu spulen, damit der nachfolgende Leser diese auch richtig nutzen kann.
(...) Für euer Verständnis danke ich im Voraus. (...)"
[Isabella Elben, Limburgerhof]
Einblicke
Die
DZB im Jahr 2000
von Dr. Thomas Kahlisch (Direktor)
Das letzte Jahr des vergangenen Jahrtausends war für die Deutsche Zentralbücherei für
Blinde ein sehr erfolgreiches. Aufgrund der Übernahme eines Großauftrages im Bereich der
Zeitschriftenproduktion, umfangreicher Verkäufe von Blindenschriftbüchern und
Relieferzeugnissen, sowie der anhaltend hohen Nachfrage anderer Hörbüchereien nach
Hörbüchern, die in den Studios der Gustav-Adolf-Straße aufgenommen wurden, war das
vergangene Jahr das umsatzstärkste des letzten Jahrzehnts. Der nachfolgende Bericht
informiert über Veränderungen, Produkte und Ereignisse, die Auskunft über das Erreichte
geben.
Mit der Fertigstellung der Außenanlagen wurde im Frühjahr die 1994 begonnene
Rekonstruktion unserer drei Betriebsgebäude abgeschlossen. Die Wegführung des
Hofbereiches ist so gestaltet, dass blinde oder sehbehinderte Personen trotz zahlreicher
Autostellplätze nicht Gefahr laufen sich zu verletzen, oder die Orientierung zu
verlieren. Grünanlagen und einige Bänke verleihen der Rückseite des Gebäudekomplexes
eine angenehm beruhigte Atmosphäre und laden Gäste, aber auch die Mitarbeiter in den
Pausen, zum Verweilen ein.
Personalveränderungen
Im vergangenen Jahr verlor die DZB mit Dietmar Wölfel einen erfahrenen
Korrekturleser. Nach kurzer schwerer Erkrankung verstarb er am 27. September 2000
unmittelbar vor der Vollendung seines 65. Lebensjahres.
Ursula Hirschnitz Leiterin der Blindenschriftherstellung, Helmut Schiller Leiter der
wissenschaftlichen Bibliothek sowie Ingrid Szpengel - Mitarbeiterin im Studio, verließen
altersbedingt ihre langjährige Wirkungsstätte. Durch innerbetriebliche Umsetzungen
gelang es, die jeweiligen Aufgabenfelder mit anderen Kollegen und Kolleginnen zu besetzen.
Verlagsangebote
Die Monatszeitschrift "Die Gegenwart, das Organ des Deutschen Blinden- und
Sehbehinderten-Verbandes e.V. (DBSV), wird seit dem 1. Januar 2000 in der DZB in
Blindenschrift und auf Tonkassette produziert. Eine Aufgabe, die so manche
organisatorische und technische Veränderung notwendig machte. Nach einem Jahr kann
festgestellt werden, dass die Maßnahmen insgesamt zu einer Straffung des Betriebsablaufes
geführt haben und die mehr als 3000 Leser mit dem neuen Layout und der Qualität der
Zeitschrift sehr zufrieden sind.
Verändert hat sich auch das Angebot der in der DZB redaktionell bearbeiteten
Zeitschriften. In Kooperation mit dem Blindenhilfswerk Berlin wurde vereinbart, dass ab
Januar 2001 von der DZB nur noch das wöchentliche Rundfunkprogramm in Blindenschrift
angeboten wird. Die Berliner Kollegen sind ab sofort einzige Anbieter eines TV-Programms
in Brailleschrift. Die neu konzipierte Rundfunkprogrammzeitschrift der DZB,
"Braille-Radio, bietet nun drei kulturell anspruchsvolle Hörfunkprogramme mehr und
enthält viele zusätzliche Informationen zu Hörspielen oder besonderen
Konzertveranstaltungen.
Neben einem breiten Zeitschriftenangebot (16 Stück in verschiedenen Editionsformen)
wurden in der DZB im vergangenen Jahr mehr als 80 neue Titel in Blindenschrift
herausgebracht. Dazu gehören: 22 belletristische Titel, 34 Sachtitel, 10 Kinderbücher, 6
Lehrbücher und 4 Kataloge.
Auch Literatur für die Schule stand im Produktionsplan. Hier ist u.a. ein Lehrbuch zur
Geschichte für die Klassenstufen 5 und 6 zu nennen. Dieses Schulbuch wurde - gemäß der
Vorlage in Schwarzschrift und den Wünschen der Auftraggeber in unterschiedlichen
Fassungen für drei Bundesländer hergestellt. In Bearbeitung befinden sich derzeit das
darauf aufbauende Geschichtsbuch für die höheren Schulklassen und eine Auswahl von
Büchern für den Deutschunterricht.
Highlights waren die ersten drei Bände der Harry-Potter-Reihe, die sich bei jung und alt
größter Beliebtheit erfreuen. Die Bildzeitung titelte kürzlich in einer
Bildunterschrift dazu: "Das heißt Harry Potter auf Blind. Das Bild zeigte die
Titelseite des in der DZB gedruckten ersten Bandes in Blindenschrift.
Mit "Hannibal dem Nachfolger des Thrillers "Das Schweigen der Lämmer - soll
hier auch auf ein eher reißerisch aufgemachtes Werk hingewiesen werden, welches gerade in
die Kinos gekommen ist und bei so manchem Cineasten die Nerven strapazieren dürfte. Leser
der Brailleschrift haben Gelegenheit, dieses und viele andere Bücher zu erwerben oder in
der Bibliothek auszuleihen.
Besondere Editionsformen
Nach langer Vorbereitungszeit ist er nun fertiggestellt, der erste Kartensatz des
Europa Atlas für Blinde und Sehbehinderte. In Kooperation mit dem Verlag Justus Perthes
entstand diese aus vier Teilkarten bestehende Generalansicht unseres Kontinents. Parallel
zum Verkauf dieses Schmuckstücks Leipziger Relieftechnik wurde mit der Entwicklung
weiterer Karten begonnen. In Arbeit sind Darstellungen der Länder, die sich westlich der
Bundesrepublik befinden.
Mit dem Booklet in Blindenschrift für eine CD von Scarlett O. & the little big band
beschritt die DZB im vergangenen Jahr - dank der Initiative eines engagierten Lesers -
neue Wege. Der Erfolg dieser fühlbaren Ergänzung musikalischer Genüsse wird wohl zu
Folgeprojekten auf diesem Gebiet führen.
Einem Kunden der DZB verdanken wir die Idee, blinden Beifahrern Streckenverzeichnisse der
wichtigsten Autobahnen Deutschlands in Blindenschrift in die Hand zu geben. So wird
mancher passive Mitfahrer zu einer wichtigen Navigationshilfe und Autofahren zu einem
Erlebnis für die ganze Familie.
Bibliotheksangebote
Das Lesebedürfnis unserer Nutzer ist ungebrochen. Die Statistik zeigt, dass wieder 4
% mehr Bücher in der Hörbücherei und 5 % in der Punktschriftbibliothek ausgeliehen
wurden. 293 Titel in Blindenschrift und 258 Hörbücher wurden im vergangenen Jahr neu in
den Bestand der Leihbibliothek aufgenommen.
Die Infokassette, vielfältige Informationsveranstaltungen sowie unser Internetauftritt
sind Gründe dafür, dass im vergangenen Jahr mehr als 200 neue Leser den Weg zu uns
gefunden haben. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bibliothek sind guter Dinge, auch
in diesem Jahr neue Interessenten gewinnen zu können, schließlich ermöglichten es die
freundlichen Spenden unserer Leser, eine große Anzahl neuer Titel als Fremdeinkäufe
zusätzlich in den Bestand zu übernehmen.
An dieser Stelle sei nochmals all denen, die die Arbeit der DZB, egal ob mit einer kleinen
oder großen Spende, unterstützt haben, herzlich gedankt. Diese zusätzlichen Mittel sind
für uns in Zeiten knapper Kassen sehr wichtig. Sie ermöglichen es, Vielfalt und
Attraktivität unserer Angebote zu erhöhen.
Neuigkeiten aus dem Studio
Mit 111 aufgelesenen Titeln zieht das Studio ebenfalls eine sehr positive Bilanz des
vergangenen Jahres. Hinzu kamen die Produktion der hauseigenen Zeitschriften sowie der 7
Zeitschriften im Fremdauftrag. Dabei beschritten die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter im
Studio und in der Redaktion neue Wege. Denn seit vergangenem Jahr werden die meisten
Zeitschriften und einige Hörbücher digital aufgenommen und bearbeitet. Ein erster und
wichtiger Schritt auf dem langen Weg zu digitalen Hörbüchern.
Veranstaltungskalender 2000
Der Terminkalender des vergangenen Jahres war gefüllt mit Veranstaltungen, die von
der DZB durchgeführt wurden bzw. an denen Mitarbeiter oder Mitarbeiterinnen aktiv teil
nahmen. Über einige der interessantesten wird nachfolgend kurz berichtet:
"Augenblickmal, die Ausstellung im Sächsischen Landtag informierte vom 16. Februar
bis 14. März 2000 alle, die in der obersten Landesvertretung arbeiten oder einfach mal
schauen wollten, wie blinde und sehbehinderte Menschen in Sachsen leben. Auf mehr als 30
Schautafeln berichteten der Blinden- und Sehbehinderten-Verband Sachsen, das
Berufsbildungswerk Chemnitz und die DZB über ihre Arbeit. Auf der
Eröffnungsveranstaltung fand Erich Illtgen, Präsident des Sächsischen Landtages,
eingängige Worte, Engagement und Qualität der Blindenselbsthilfe Sachsens zu würdigen.
Die Leipziger Buchmesse vom 23. bis 26. März 2000 stand ganz im Zeichen des
Hörbuchbooms. Leider fand sich Ms. Rowling, Autorin der Potter-Reihe, nicht zu einem
Interview für die DZB-Nachrichten bereit, es sei ihr verziehen, sie konnte sich vor dem
Ansturm der Zauberlehrlinge kaum retten.
Im Sommer präsentierte sich die DZB mit einem Stand auf der Reha-Messe in Berlin.
Um mit unseren jungen Lesern in engeren Kontakt zu kommen, fuhren Mitarbeiter aus der
Bibliothek und dem Verlag gemeinsam mit dem Direktor in die Blindenschule nach Königs
Wusterhausen. Die Veranstaltung war trotz schönen Wetters von den Schülern gut besucht
und wir nahmen aus der Diskussion viele Anregungen mit nach Hause.
Im September fanden sich die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaften der
Blindenschriftbüchereien/Druckereien und Hörbüchereien in der DZB zu ihren
Jahresversammlungen zusammen. Im Anschluss an diese beiden Sitzungen veranstalteten die
DZB, die Norddeutsche Hörbücherei und die Schweizerische Bibliothek für Blinde und
Sehbehinderte in der Gustav-Adolf-Straße den II. DAISY Workshop. Mehr als 50 Experten aus
Deutschland, der Schweiz, Österreich und Schweden diskutierten über die Einführung der
neuen digitalen Hörbuchgeneration. Informationen dazu findet der Leser im Internet unter
der Adresse: www.dzb.de/daisy.
Der 175. Geburtstag der Brailleschrift war der DZB eine besondere Veranstaltung wert.
Unter dem vom DBSV verbreiteten Motto: "6 Richtige 175 Jahre Brailleschrift
organisierten wir in Zusammenarbeit mit dem Sächsischen Blindenverband und mit
freundlicher Unterstützung der Stadt Leipzig am Naschmarkt in der Alten Börse zu Leipzig
eine Festveranstaltung. Herr Staatssekretär Eckhard Noack vom Sächsischen
Staatsministerium für Wissenschaft und Kunst brach in seinem interessanten
Eröffnungsvortrag eine Lanze für das gedruckte Buch im Computerzeitalter. Er verglich
die Erfindung Louis Brailles mit der Entwicklung des Buchdrucks Johannes Gutenbergs vor
600 Jahren. 6 blinde Referenten und Referentinnen fanden differenzierte und ansprechende
Worte, zu "ihrer Schrift und zu ihren Chancen, stellten aber auch kritische Fragen
die sich in diesem Zusammenhang ergeben. Die Veranstaltung wurde aufgezeichnet und kann in
der Hörbücherei unter der Bestellnummer 5799 ausgeliehen werden.
Der am 14. Oktober 2000 angebotene zweite Tag der offenen Tür der DZB fand nachhaltiges
Interesse bei den Leipzigern und anderen Gästen, die aus nah und fern angereist waren.
Wie der kurze Auszug aus dem Terminkalender zeigt, war das vergangene Jahr sehr
ereignisreich. Für 2001 sind nicht weniger Aktivitäten zu erwarten. Die Leserinnen und
Leser der DZB-Nachrichten werden in gewohnter Art und Weise darüber informiert.
Produktionsvorhaben im neuen Jahr
Was können die Punktschriftleser an Neuem erwarten? Nun, wer gern Rätsel der
Menschheitsgeschichte löst, der wird sich bestimmt über Johannes von Buttlars
Buch "Der flüsternde Stein : Götter, Priester, Könige: Das Geheimnis der
Kristall-Orakel" freuen. Der Autor forscht dem Geheimnis der kommunizierenden
Welten nach. Seine erstaunliche Entdeckung: Materie ist kommunikationsfähig. Viel
Wissenswertes über die Erde vermittelt Christoph Schneider im "Faktenlexikon
Erde". Dieser Wissensspeicher beinhaltet eine Fülle von Daten und Fakten zur
Entstehung und Entwicklung unseres Planeten, erläutert komplexe Zusammenhänge und
liefert wichtige Informationen zu Kontinenten, Ländern und Ökosystemen. Mit zahlreichen
spektakulären Expeditionen hat Thor Heyerdahl auf sich aufmerksam gemacht. Seine
autobiographischen Erinnerungen mit dem Titel "Auf Adams Spuren : das Abenteuer
meines Lebens" bestechen durch Witz und Weisheit. Eine Biographie des 20.
Jahrhunderts und eines Großen der Weltpolitik schrieb Christian Graf von Krockow mit
seinem Buch "Churchill". Krockow zeigt die Größe, aber auch die
Widersprüche und Abgründe des Mannes, der als Gegenspieler der Gewaltherrschaft
unsterblichen Ruhm erwarb und doch einen barbarischen Bombenkrieg zuließ. Das Leben eines
großen Mannes der Literatur beschreibt kenntnisreich und einfühlsam Günther Drommer in
seinem Buch "Erwin Strittmatter. Des Lebens Spiel" mit vielen bislang
unbekannten Einzelheiten aus dem eindrucksvollen Jahrhundertleben des
"Laden"-Autors, dessen Bücher in mehr als vierzig Sprachen übersetzt wurden
und in ihren Auflagen nach Millionen zählen.
Kommen wir von den Kreativen zu den Nachahmern allerdings auf einem ganz anderen Gebiet:
Ganz zeitgemäß, wenn auch sicher nicht jedermanns Sache, sind so außergewöhnliche
Kreationen wie Spaghettikuchen, Blondes Blech, Pina-Colada-Kuchen: Für alle, die gern
backen, gibt es "Modekuchen vom Blech" aus der Dr.-Oetker-Reihe.
Mit dem Vorurteil vom Heimchen am Herd räumt dagegen Renate Göckel auf und
gab ihrem Buch den streitbaren Titel "Brave Mädchen holt der Wolf : Schluss mit
der weiblichen Selbstverleugnung". Das Buch zeigt, wie Frauen immer wieder sich
selbst im Weg stehen, warum das so ist und wie sie das ändern können. Oftmals geht ein
neues Selbstverständnis ja nicht ohne Einschnitte im bisherigen Leben vonstatten, weshalb
hier gleich der nächste Titel flankierend zur Seite gestellt wird: in "Trennung
als Aufbruch" von Mathias Jung berichten Frauen und Männer über
das Erlebnis ihrer Trennung. "Auch aus einer schlechten Ehe", so resümiert
Evelyn, inzwischen neu verheiratet, "kann immer noch eine gute Scheidung entstehen
und ein neuer Anfang."
Für die Strategen unter uns dürfte aber eher "Meyers Schachlexikon" das
Richtige sein, Fachausdrücke aus allen Bereichen des Schachs werden erklärt, dazu gibt
es Biographien von Schachmeistern sowie Interessantes aus der Geschichte des Spiels der
Könige. Diese Könige haben sich auch immer schön beweihräuchern lassen. Wer es ihnen
gleichtun möchte, kommt nicht am folgenden Buch vorbei: "Weihrauch, Styrax,
Sandelholz : das Erlebnisbuch des Räucherwerks" gilt als ein Standardwerk.
Abwechslungsreich präsentierte Informationen, gezielte Verbrauchertipps, Anekdoten und
Geschichten, Tipps zur Entspannung und zur Anregung der Sinne machen es zu einem
faszinierenden Erlebnisbuch.
Entspannt geht's nun weiter in die belletristischen Gefilde, der Mensch will ja auch mal
unterhalten werden. Zum Beispiel mit dem Roman "Sommerschwestern" von Judy
Blume. "Die Geschichte einer Frauenfreundschaft, der man sich nicht entziehen
kann. Großartig erzählt, aufwühlend, bewegend", meinte The New York Times dazu.
Nicht ganz so unterhaltsam, aber dafür interessanter dürfte der folgende Titel sein: "Der
Flügel des Engels" beinhaltet Autobiographisches und Selbstzeugnisse des
Herumtreibers Neal Cassady, der personifizierten Legende einer ganzen
Literaturrichtung namens "Beat Generation". Mit seinem abenteuerlichen Leben
inspirierte Cassady Autoren wie Kerouac, Ginsberg und Burroughs. Und damit das Thema
ordentlich abgearbeitet wird, liefern wir Ihnen gleich noch einen sogenannten
Schlüsselroman über die Hauptgestalten der Beat-Generation hinterher: "Engel,
Kif und neue Länder" von Jack Kerouac. Der Herold einer Jugend, die sich
inmitten der schlechtesten aller Welten zum glückseligen Leben bekennt, nimmt uns mit auf
seine Suche nach einem intensiven, rauscherfüllten Dasein in New York, Mexiko, Tanger,
Paris und London.
In einen ganz anderen Kulturkreis entführt Shusako Endos Roman "Wiedergeburt
am Ganges". Vier Japaner sind nach Indien aufgebrochen, um mit sich selbst ins
Reine zu kommen, sich aus individueller Verstrickung und Schuld zu lösen. Vor der
erschütternden Kulisse des heiligen Flusses erleben sie, jeder auf seine Weise, eine
tiefe Verwandlung. Ein autobiographischer Roman über die Liebe zu den Büchern und die
Macht des Erzählens ist "Der Geschichtenmacher" von Kjell Johansson.
Liebevoll, aber unsentimental zeichnet er das Bild einer Familie am Rande der
Gesellschaft, die durch ihre Liebe zu Geschichten und der Lust am Erzählen der
Trostlosigkeit ihres Daseins entflieht. In einer Florentiner Klosterbibliothek macht eine
junge Amerikanerin einen aufregenden Fund sie entdeckt das letzte Exemplar der 16
lüsternen Sonette des Pietro Aretino. Ein Skandal damals, ein Skandal noch heute, ein
Fund, der alles verändern wird: "Das verbotene Buch der Lüste" ist der
Titel des Buches und Robert Hellenga heißt sein Autor. Stephen King ist der
Autor des Romans "Atlantis". King entfaltet das komplexe Porträt einer
Generation, in deren Alltag Flower Power und Woodstock, aber auch Verrat, Krieg und
Schrecken einbrechen. Aufheitern können Sie sich ja dann mit Claudia Kellers Roman
"Unter Damen", einer köstlich boshaften Komödie über die sogenannten
besten Jahre, nach dem Motto: Wenn der richtige Mann im falschen Alter ist!
Der Nahe Osten ist das Thema in "Die Tore von Damaskus" von Joris
Lieve, die mit den Menschen, über die sie schreibt, lebt. So beruht auch
dieses intime Porträt der modernen arabischen Gesellschaft auf ihrer engen Freundschaft
mit der Syrerin Hala.
Historische Romane entführen in das Frankreich des 16. Jahrhunderts ("Fortune de
France" von Robert Merle) und ins England des 18. Jahrhunderts ("Die
Gabe des Schmerzes" von Andrew Miller).
Zum Schluss unserer kleinen Vorschau seien noch die Pferdegeschichten in "Ein
Pferd ein Freund" und eine Auswahl kulinarischer Weisheiten aus dem "Zitatenschatz
für Feinschmecker" erwähnt.
Wie
war das damals?
In dieser und den folgenden Ausgaben machen wir Sie mit der Entwicklung des Kur- und
Erholungswesens deutscher Blinden-Selbsthilfe-organisationen an der Ost- und Nordsee
bekannt. Autor ist Professor Dr. Willi Finck aus Rostock. Die Beiträge entstammen dem von
Prof. Finck verfassten 12. Sonderheft des Heimatvereins Grevesmühlen e.V. mit dem Titel
"85 Jahre Blindenkur- und Erholungsfürsorge an deutschen Küsten Die Geschichte des
Blindenkur- und Erholungsheimes im Ostseebad Boltenhagen".
Die Erholungsfürsorge des Reichsdeutschen
Blindenverbandes und des Deutschen Blindenverbandes
Der geschichtliche Beginn der organisierten Kur- und Erholungsfürsorge ist im
wesentlichen mit der ältesten deutschen Spitzenorganisation der Blinden, dem
Reichsdeutschen Blindenverband, verbunden. Sie vollzog sich im Schatten des im August 1914
ausgebrochenen l. Weltkrieges. Auch für den Reichsdeutschen Blindenverband brachte der
Krieg eine jähe Wende in seiner ursprünglich für zivile Zwecke konzipierten
Erholungsfürsorge, wurde doch jetzt die Betreuung erblindeter Soldaten notwendig.
Kaum ein halbes Jahr nach Ausbruch des l. Weltkrieges beschloss der Verwaltungsrat des
Reichsdeutschen Blindenverbandes unter Leitung des Vorsitzenden F.W. Vogel, Hamburg, im
Dezember 1914 die Bildung der Abteilung Kriegsblindenhilfe. (Demmel, S. 109) Die
Realisierung der damit verbundenen Aufgaben lag in den Händen des Predigers P. Reiner,
Berlin.
Zunächst wurden für die Erholungsaufenthalte Villen angemietet bzw. gekauft. Besonderen
Wert legte die Spitzenorganisation auf Unterkünfte an der See, denn viele Blinde hatten
ihre Vorliebe für Aufenthalte am Meer entdeckt. Schon im Jahr 1915 konnte die Villa
"Edelweiß" gekauft (Kaufpreis 67 000 Reichsmark) und die Villa
"Concordia" in Binz auf der Insel Rügen gemietet werden. "Concordia"
steht nach jüngsten Modernisierungen auch heute noch als Urlaubsdomizil der Allgemeinheit
zur Verfügung. 1918 wurde das sehr schön gelegene Kurhaus "Prora" mit 110
Betten zum Preis von 220 000 Reichsmark erworben. Letzteres existierte bis 1995 als Hotel,
wurde danach abgerissen und statt dessen ein Neubau von einer Schweizer Gesellschaft für
Erholungszwecke errichtet.
In der Zeitschrift "Die Blindenwelt" (Nr. 9/1934) schrieb der damalige
Vorsitzende des Reichsdeutschen Blindenverbandes, Dr. Gäbler-Knibbe, folgendes:
"Die Kriegsblinden-Erholungsheime in Binz auf Rügen, in Cunnersdorf im Riesengebirge
und in Wernigerode am Harz legen Zeugnis ab von der geleisteten Arbeit ... In der Zeit von
Juni 1915 bis Mai 1918 fanden 364 im Krieg erblindete Soldaten in diesen Heimen
Aufnahme".
Es waren vorwiegend sechswöchige Erholungsaufenthalte, verbunden mit Maßnahmen zur
Elementarrehabilitation, die die damals noch überwiegend im Reichsdeutschen
Blindenverband organisierten Kriegsblinden in Anspruch nahmen, obwohl schon 1916 der Bund
erblindeter Krieger allerdings von nur wenigen Kriegsblinden in Berlin gegründet wurde.
(Mehls, S. 47/48) Allerdings zeigten sich 1918 bereits während des Verbandstages in Binz
erste Spannungen zwischen Kriegs- und Zivilblinden zu Fragen einer gerechten Verwendung
der Mittel für die Kriegsblindenhilfe. ("Die Blindenwelt" Nr. 8/1918 und
11/1918)
Es bleibt aber in historischer und moralischer Hinsicht Verdienst von Zivilblinden im
Reichsdeutschen Blindenverband, sich bald nach Ausbruch des I. Weltkrieges zielgerichtet
und engagiert für die Betreuung und Erholung der erblindeten Soldaten eingesetzt zu
haben. Dies ist ein geschichtlicher Vorgang, der weder in Vergessenheit geraten noch
verschwiegen werden sollte, wie dies 1947 der damalige Direktor der Deutschen
Zentralbücherei für Blinde in Leipzig, Max Schöffler, in seinem Artikel "Offener
Brief an die Blinden des Krieges" vehement anmahnte. (vgl. "Die Gegenwart"
2/3 1947, S. 15 ff.) Es wird hier deutlich, dass es auch unter
organisationsgeschichtlichem Aspekt sinnvoll ist, in der Blindenfürsorge sowohl die
Ursache der Blindheit (Kausalität) als auch die allgemein blindheitsbedingten
Rehabilitationsmaßnahmen (Finalität) positiv ins Blickfeld zu rücken.
Herbert Demmel stellt aus aktueller Sicht fest: "Eines der Hauptziele der
Zivilblinden war es von Anfang an, die gleiche Ausgleichsleistung für die
blindheitsbedingten Belastungen zu erhalten wie Kriegs- und Unfallblinde, denn für die
Auswirkung konnte es, anders als hinsichtlich der Versorgungs- und
Entschädigungsleistungen, nicht auf die Ursache (Kausalität) ankommen, sondern nur auf
das Ziel der Eingliederung (Finalität)". (vgl. Demmel, S. 324)
Nach Aufgabe der überwiegend von Kriegsblinden benutzten Villen in Binz ist 1920 auch das
Kurhaus "Prora" sehr günstig vom Reichsdeutschen Blindenverband verkauft
worden. Für den Erlös konnten drei andere Objekte erworben werden:
1921 das Haus auf dem Kniebis bei Freudenstadt/Schwarzwald, 1924 der "Lindenhof"
in Bad Oppelsdorf bei Zittau (heute Polen) und schließlich wieder ein Haus an der See, am
Timmendorfer Strand in der Lübecker Bucht, die 1964 nach Alfons Gottwald benannte
Blindenerholungs- und Bildungsstätte.
In den siebziger Jahren übertrug der Deutsche Blindenverband die Erholungs- und
Kurfürsorge seinen Landesverbänden. Heute betreiben sie insgesamt elf Objekte. 1980
erwarb der Blindenverein Hamburg, von 1981 bis 1986 unter Vorsitz von Werner Prüfer, das
"Alfons-Gottwald-Haus" am Timmendorfer Strand. Zu verschiedenen Zeiten erfolgten
Erweiterungen und in den Jahren 1982 bis 1985 eine grundlegende Modernisierung (heute 56
Betten). Das Gesamtprojekt wurde mit einem Kostenaufwand von sechs Millionen DM
realisiert, davon 1,5 Millionen für den Zukauf eines Grundstücks. An der Finanzierung
der sehr erheblichen Umbaukosten haben sich beteiligt: das Bundesministerium für Arbeit
und Sozialordnung (Bonn) und das Sozialministerium des Landes Schleswig-Holstein (Kiel)
mit Zuwendungen aus der Ausgleichsabgabe für Schwerbehinderte, die Paul- und Charlotte-
Kniese-Stiftung (Berlin), die Claire-Jung-Stiftung( Hamburg), die Hamhurger Sparkasse, die
NDR Werbefernsehen und Werbefunk GmbH, der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband,
Landesverband Hamburg e.V. mit der Aktion Sorgenkind und der Glücksspirale, die
Mitglieder sowie Freunde und Förderer des Blindenvereins Hamburg e.V., die sogenannte
"Bausteine" kauften und Geldbeträge spendeten.
(In der nächsten Ausgabe: Die Kur- und Erholungsfürsorge des Bundes der Kriegsblinden
Deutschlands)
Die
Kramkiste
Im Bestand der Bibliothek
gekramt
Wir stellen Ihnen jeweils einen Punktschrift- und einen Hörbuchtitel vor, die sich schon
länger im Bestand unserer Bibliothek befinden - zur Erinnerung für die "Alten"
und zur Information für die "Jungen". Vorgestellt werden die Titel von unseren
Bibliothekaren.
Leo Tolstoi: »Hadschi Murat«
empfohlen von Susanne Siems
(Punktschriftbibliothek)
Das Gefühl, sich im Kreise zu drehen, kennt sicherlich jeder von Ihnen, liebe Leserinnen
und Leser. Ich hatte es jüngst bei der Lektüre der kleinen Erzählung von Leo Tolstoi,
die ich Ihnen heute vorstellen möchte.
Die Erzählung beginnt an einem kalten Novemberabend des Jahres 1851. Seit Ende des 18.
Jahrhunderts bereits waren die Russen bemüht, die meist unter islamischer Herrschaft
lebenden kaukasischen Völker, wie zum Beispiel die Georgier, Awaren und eben auch
Tschetschenen zu unterwerfen. Anführer der Tschetschenen war zu jener Zeit Schamil.
Hadschi Murat ist Stellvertreter (Naib) Schamils. Er ist gerade zu den Russen
übergelaufen und auf der Flucht vor den Häschern Schamils. Obwohl selbst zum Volk der
Tschetschenen gehörend, hasst Hadschi Murat Schamil, wie man nur hassen kann. Die Wurzeln
dieses Hasses liegen in seiner Jugendzeit, als Schamil einen von Hadschi Murats engsten
Freunden brutal umbrachte. Indem er zu den Russen überläuft, erhofft sich Hadschi Murat
die Möglichkeit auf Rache. Tolstoi lässt Hadschi Murat diese Geschichte in russischer
Gefangenschaft erzählen. Sie zeigt die ganze historische Tragweite und Komplexität der
Ereignisse im Kaukasus. Interessant und erschütternd zugleich sind die Parallelen zur
Gegenwart. Die Brutalität auf beiden Seiten, auch der Krieg der kaukasischen Völker
untereinander. Und dann die Berichterstattung. Ein Ereignis an der Front von eher geringer
Bedeutung wird durch die Presse zur Heldentat aufgebauscht. Besonders an dieser Stelle war
es für mich kaum zu glauben, dass ich ein Buch in der Hand hielt, das vor hundert Jahren
geschrieben wurde.
Tolstoi war selbst in den Jahren 1851 bis 53 als Offizier der russischen Armee in dieser
Region. Die Kenntnis der Situation spürt man in jeder Zeile. Eine schöne Leseerfahrung -
ich habe den Autor von "Krieg und Frieden auch in dieser kleinen Erzählung
wiedergefunden. Das Taktieren und "Strategieren" der großen Feldherren, das
Kämpfen für Visionen und das rücksichtslose Spiel mit Menschenleben. Die großen Ideale
neben dem Leben des kleinen Mannes. Welche Rolle spielen für eine Mutter, die ihren Sohn
verliert, die Ziele eines solchen Kampfes? Egal auf welcher Seite. Und wie sehen die
großen Kriegskarten, die in den Stützpunkten an den Wänden hängen, in einem
kaukasischen Aul oder einer russischen Bauernhütte aus?
Fragen, die mir auch im 21. Jahrhundert noch durch den Kopf gehen, wenn ich im Fernsehen
mit Bildern und Worten konfrontiert werde, die ich lieber nicht gesehen und gehört
hätte.
Aufmerksam geworden bin ich auf "Hadschi Murat eigentlich durch ein anderes Buch, das
ebenfalls, allerdings ganz neu, in der DZB in Punktschrift erschienen ist und das ich
Ihnen, falls durch diese Kramkiste Ihr Interesse geweckt wurde, ebenfalls wärmstens
empfehlen möchte.
Beide Titel finden Sie nun noch einmal mit genauen Angaben aufgeführt. Viel Spaß beim
Lesen zu wünschen, widerstrebt mir heute. Aber die Lektüre lohnt sich für jeden, der
bestrebt ist, gegenwärtige Ereignisse geschichtlich richtig einzuordnen und sich ein
eigenes Bild von den Dingen zu machen.
Tolstoi, L.: Hadschi Murat,
3 Bde., kh., BNA 37
Goytisolo, J.: Landschaften eines Krieges,
1 Bd., rkzp., BNA 9238
Guy de Maupassant: »Bel Ami«
empfohlen von Jana Waldt (Hörbücherei)
Heute habe ich mir einen französischen Gesellschaftsroman, der im Paris der 2. Hälfe des
19. Jahrhunderts spielt, ausgesucht.
George Duroy, ehemaliger Soldat, kommt nahezu mittellos nach Paris, um dort sein Glück zu
suchen. Zufällig begegnet er hier einem früheren Freund namens Forestier, einem
Journalisten. Dieser vermittelt ihm einen Job als Reporter. Und obwohl Duroy wenig
schreibgewandt ist, hat er mit Hilfe von Madame Madeleine Forestier, die ihm seine Artikel
diktiert, schnell erste Erfolge.
Nun, da er auf dem besten Wege ist, ein beachteter Reporter zu werden, wächst Duroys
Selbstvertrauen rapide an. Die Frauen, die ihn nur "Bel Ami" (schönen Freund)
nennen, fallen ihm nur so zu und er versteht es glänzend, sie für sein Fortkommen
auszunutzen.
Nach dem Tode seines Freundes Forestier heiratet er praktischerweise Madeleine und nimmt
auch gleich seine Stelle als polititscher Redakteur ein. Die Artikel schreibt nach wie vor
seine Frau.
Allmählich wird sich Duroy in seiner "Nachfolgerrolle" selbst verhasst, auch
seine Ehe wird mehr und mehr zu einer bloßen Interessengemeinschaft. Er betrügt seine
Frau und wird von ihr betrogen. Ganz zufällig überrascht er sie inflagranti und kann
sich nun als betrogener Ehemann von ihr scheiden lassen.
Jetzt sieht er sich dem Ziel seiner Wünsche, einem Ministersessel, ganz nahe. Er
entführt Suzanne, die ihm hörige Tochter seines Chefs Walter, und zwingt ihn damit, in
die Heirat einzuwilligen.
In seiner sehr bildhaften Sprache charakterisiert Maupassant in der Gestalt des George
Duroy den Typ des rücksichtslosen Emporkömmlings, der beispielhaft ist für die korrupte
französische Gesellschaft im Zeitalter des sich ausbreitenden Imperialismus.
Gelesen wird dieses Hörbuch von Christine Nitsche-Geithner. Es umfasst 10 Kassetten und
ist unter der Bestellnummer 265 als Hörbuch erhältlich.
In 5 Bänden Blindenkurzschrift ist dieser Titel unter der Nummer 1702 ausleihbar.
Bücher
des Jahrhunderts
Welche Bücher haben das 20. Jahrhundert am stärksten geprägt? Eine internationale Jury
ist dieser Frage nachgegangen. Das Ergebnis wurde im Börsenblatt des Deutschen
Buchhandels veröffentlicht (Petra Gass: Meilensteine. Börsenblatt des Deutschen
Buchhandels Nr. 81 vom 12.10.99). Titel dieser Liste, die Sie in der DZB ausleihen
können, stellen wir Ihnen ausführlicher vor.
Wir setzen heute fort mit Position Nr. 24:
Marcel Proust:
Auf der Suche nach der verlorenen Zeit
(1927)
ausleihbar als Hörbuch.
Der französische Schriftsteller Marcel Proust wurde am 10. Juli 1871 in Paris geboren,
sein Vater war Mediziner.
Proust ging bereits als Jugendlicher seinen Interessen für Literatur, Kunst und
Philosophie mit Leidenschaft nach. Als Schüler las er die für sein späteres Werk
wichtigen zeitgenössischen Autoren des Fin de siècle. 1890 trat er in die École des
Sciences Politiques ein und belegte an der Sorbonne Vorlesungen von Bergson. Ab 1892
schrieb Proust kritische und essayistische Feuilletons, bevor er sich selbst der Dichtung
zuwandte. Bereits die 1896 erschienenen ersten Erzählungen und Skizzen steckten den
Themenkreis subjektivistischer Welterfahrung ab und bereiteten im Keim die Gedankenwelt
für das spätere Hauptwerk vor. Neben seiner Dichtung hat Proust vor allem an der
Ausarbeitung einer Poetik des Lesens gearbeitet, worin er sich gegen die herrschenden
Auffassungen des Realismus und Positivismus wandte.
Prousts dichterisches Hauptwerk ist der mehrere Bände umfassende Romanzyklus "Auf
der Suche nach der verlorenen Zeit" (1913-1927), von dem der größte Teil erst
posthum erschien. Denn seit früher Kindheit an einem schweren Asthma leidend, erlag
Proust am 18. November 1922 dieser Krankheit bereits im Alter von 51 Jahren.
Dieser Zyklus, dessen Hauptperson der Ich-Erzähler Marcel, dessen "Held" die
Erinnerung, dessen wichtigstes Motiv die Zeit und dessen zentrales Thema die Geschichte
einer künstlerischen Berufung ist, erwuchs aus einer von Proust wieder verworfenen
Erstfassung, "Jean Santeuil" (entstanden 1896-1900, erschienen 1952) und einer
Sammlung von Essays "Gegen Sainte-Beuve" (entstanden 1908-10, erschienen 1954).
Von dem siebenteiligen, auf das Dreifache des ursprünglich geplanten Umfangs gediehenen
Werk, das der Autor bis zu seinem Tod 1922 unablässig überarbeitete, blieb nur der
bereits 1913 auf des Verfassers eigene Kosten gedruckte erste Teil ("In Swanns
Welt") unverändert. Zunehmender Pessimismus, allmähliches Überwiegen von
psychologischer Analyse und Reflexion über das poetische Element und immer stärkere
Wendung zu soziologischen Fragestellungen kennzeichnen die lange Entstehungsgeschichte.
Der an Handlung arme Roman umfasst rund 42 Lebensjahre des Ich-Erzählers Marcel,
historisch die Zeit vom Ende des Krieges von 1870/71 bis zum Ende des 1. Weltkriegs, wobei
nicht die geschichtlichen Ereignisse als solche, sondern ihre Wirkung auf Mensch und
Gesellschaft (namentlich der Dreyfus-Prozess) zur Darstellung gelangen. Der Zyklus ist in
sieben Teile gegliedert. In minutiösen Milieustudien zeichnet Proust die mondänen
Attitüden und sozialen Zwänge rivalisierender Clans und Salons nach. Gefühle wie
Eifersucht und Liebe sowie Träume und Imaginationen bilden den Stoff für eine poetische
Durchdringung des Verhältnisses von menschlichem Dasein und Zeit. Die unwillentliche
Erinnerung - bedingt durch die menschliche Einbildungskraft - wird dabei als Möglichkeit
gezeigt, die Diskrepanzen von Ich und Welt zu überwinden und so zu einer Selbstfindung
beizutragen. Die Künstlergestalten des Romans (der Schriftsteller Bergotte, der Komponist
Vinteuil, der Maler Elstir) wachsen aus Leid, Missachtung und menschlicher Schwäche zu
den die Substanz ihres Lebens kristallisierenden Genies heran, deren Werk dem
Ich-Erzähler Marcel in einer Art von ästhetischer Erziehung den Weg zur eigenen
"Berufung" weist.
Auf die Literatur der Moderne (u.a. Samuel Beckett, Vladimir Nabokov) hat Proust mit
seinem Werk großen Einfluss ausgeübt.
Proust, Marcel:
"Auf der Suche nach der verlorenen Zeit".
Ein kolossales Gemälde der Pariser Gesellschaft in der Zeit von 1870 bis 1916.
Spr.: Daniel Reinhard (Zürich).
- Bd. I. In Swanns Welt.
15 Kass.